Obwohl heute Konsens darüber besteht, dass Autismus ein heterogenes und dimensionales Phänomen ist, das individuelles Verständnis und maßgeschneiderte Hilfen bedarf, erfolgt die Diagnostik noch immer überwiegend und ausschließlich nach dem klassischen biomedizinischen Modell gemäß ICD-10/11 und DSM-5. Dies begrenzt die Kommunikation zwischen Berufsgruppen sowie zwischen Berufsgruppen, autistischen Menschen und Angehörigen. Kategoriale Diagnosen allein haben darüber hinaus bei Autismus wenig Informationswert für die Interventionsplanung im konkreten Fall unter Einbeziehung des gesamten Lebensumfeldes. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF) der WHO erlaubt die ganzheitliche Erfassung der Stärken und Schwächen einer Person unter Einbeziehung von Körperstrukturen- und funktionen, Aktivitäten und Teilhabe, fördernden und hinderlichen Umweltfaktoren sowie Personenfaktoren. In diesem Beitrag wird die Bedeutung ICF für die Diagnostik bei Autismus-Spektrum-Störungen vorgestellt sowie ihre Anwendung in der Praxis demonstriert. Im Mittelpunkt stehen die sog. ICF Core Sets für Autismus und deren Operationalisierung in Form von Fragebogen und Ratingskalen für verschiedene Informanten. Diese Instrumente sind in einer Internetplattform implementiert, die eine reichhaltige standardisierte Ergebnisdarstellung erlaubt, welche individualisierte Behandlungs-, Anpassungs- und Unterstützungsmaßnahmen indiziert.
Professor Dr. Sven Bölte ist Ordinarius für kinder- und jugendpsychiatrische Wissenschaft am Karolinska Institutet (KI) und klinischer Psychologe an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychiatrieforschung in Stockholm, Schweden. Er ist Direktor des Center of Neurodevelopmental Disorders (“KIND”) und Herausgeber der Zeitschriften AUTISM und Scandinavian Journal of Child and Adolescent Psychology and Psychiatry. Er ist unter anderem Gründer der Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus-Spektrum (www.wgas.org) und internationaler ADOS und ADI-R Trainer. Professor Bölte hat mehr als 350 Originalarbeiten, Reviews, Leitartikel, Buchkapitel, Diagnostik und Interventionsverfahren im Bereich Autismus-Spektrum und anderen Entwicklungsstörungen publiziert (>19,000 Zitierungen, H-Index 64). Für seine Leistungen im Bereich Autismus und anderer Entwicklungsstörungen hat er verschiedene nationale und internationale Auszeichnungen erhalten, z.B. Life Watch Nordiska Priset, Årets Ljus und Psynk priset (Schweden), Autism CRC Achievement in Autism Research (Australien) und Fellow of the International Society for Autism Research (USA). In Zusammenarbeit mit der WHO leitet er seit 10 Jahren die Entwicklung und Implementierung der International Classification of Functioning (ICF) Core Sets für Autismus und ADHS.
Bei den therapeutischen Interventionen für Menschen mit Asperger-Syndrom wurde in den letzten Jahren der Fokus auf die Psychoedukation und die Förderung kompensatorischer Fähigkeiten besonders im Gruppenformat gelegt. Störungsspezifische Methoden und Manuale wurden entwickelt, die gezielt das soziale Verständnis aufbauen und quasi wie eine Fremdsprache einüben. Parallel wurde bei diesem sehr vielfältigen Störungsbild aber der Bedarf an sehr individualisierten Unterstützungsangeboten deutlich. Immer mehr Betroffene weisen mit Recht darauf hin, dass die autistischen Besonderheiten nicht (nur) als Defizite, sondern als eine andere Wahrnehmung der Welt gesehen werden sollten. Deshalb sollte im Zentrum der Begleitung, Förderung und Therapie stets die gemeinsame Entwicklung eines passenden Selbst- und Störungskonzeptes stehen. Das gilt schon für Kinder und Ihre Eltern, aber auch für die beteiligten Institutionen; weg von einem schablonenhaften Autismusbild hin zu einem tiefergehenden Verständnis für das Individuum. Davon abgeleitet geht es dann nicht nur darum, was gelernt werden soll, sondern auch und besonders, welche Wünsche und Ziele die Betroffenen selbst haben. Diese sollten gezielt erfragt und in der Therapie berücksichtigt werden. Gerade Jugendliche und Erwachsene berichten dabei von vielfältigen Kränkungen und Verletzungen, gegen die sie über Jahre hinweg bestimmte Schutzmechanismen (von Camouflage bis zu vollkommenen Rückzug) aufgebaut haben, die wiederum die Teilhabe und die Lebenszufriedenheit stark beeinträchtigen können und bei der Intervention berücksichtigt werden müssen.
Nach dem Abschluß als Diplom-Psychologe 10 Jahre Tätigkeit in Psychiatrischen Kliniken, Aus- und Weiterbildungen in Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Systemische Therapie, Dialektisch-Behaviorale Therapie, Schematherapie), Approbation sowohl als Erwachsenen- als auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Seit1995 Leiter des AutismusTherapieZentrums in Köln, seit 25Jahren Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter an verschiedenen Verhaltenstherapie-Ausbildungsinstituten mit Seminarschwerpunkten Autismus und Borderline-Störungen, Tätigkeit in einer Lehrpraxis, Mitglied in der Steuerungsgruppe zur Erstellung der Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen und Mitglied im Wissenschaftlicher Beirat bei autismus Deutschland e.V. Autor diverser Artikel mit Schwerpunkt ‚Autismus‘ und eines Lehrvideos.
Die zuverlässige Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung (ASD) ist mit etwa 2–3 Jahren möglich. Welche Anzeichen für ASD auch schon früher zu beobachten sind, ist relativ unbekannt. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass frühe Anzeichen für ASD bei Geschwistern von Kindern mit ASD bereits mit sechs Monaten erkennbar sind, noch bevor eine formale Diagnose gestellt werden kann. 10–20 % der Geschwisterkinder werden ebenfalls mit ASD diagnostiziert, und weitere 30 % weisen andere Formen einer atypischen Entwicklung (z. B. verzögerte Sprachentwicklung) auf. In dieser Präsentation werden wir die aktuelle Forschung zu frühen Anzeichen für ASD bei Geschwisterkindern vorstellen; diese belegt, dass die Art und Weise, wie frühe Anzeichen für ASD im Säuglingsalter auftreten, prädiktiv für die spätere Symptomatik ist. Diese Forschung hat starke klinische Implikationen und zeigt, dass Säuglinge mit hohem Risiko für ASD wiederholt auf frühe Anzeichen für ASD untersucht und genau beobachtet werden müssen. Ein an der Genfer Fondation Pôle Autisme entwickeltes Interventionsmodell für Hochrisikokinder, die sehr frühe Anzeichen für eine atypische Entwicklung zeigen, wird als mögliche Methode vorgestellt..
After a Master degree in neuroscience and psychology (University of Geneva), Dr. Martina Franchini started a Ph.D. in psychology at the Developmental Imaging and Psychopathology Lab under the supervision of Dr. Marie Schaer and Dr. Edouard Gentaz (University of Geneva). Her Ph.D. research mainly focused on early behavioral signs for Autism Spectrum Disorders (ASD) such as decreased social orienting and impaired joint attention behaviors and their importance for the development of young children with autism. At the same time, Dr. Martina Franchini continued to expand her clinical experience from the clinical and cognitive assessment of children with ASD to therapeutic interventions at the Early Intervention Center for ASD in Geneva (Fondation Pôle Autisme / Office Médico Pédagogique de Genève). After her Ph.D., Dr. Franchini obtained a postdoc position in Canada where she explored the emergence of very early signs of autism in high-risk infant siblings at the Autism Research Centre of the IWK hospital (Halifax, Dr. Isabel Smith), which is part of the large Canadian Infant Siblings Study. Currently, back in Geneva, she brought back clinical knowledge about the monitoring of early signs for ASD in high-risk babies, and she started an intervention project destined to high-risk babies who show developmental atypicalities (“La Boussole”, Fondation Pôle Autisme). She is also working as a clinical psychologist in the consultation centers from the Fondation Pôle Autisme (Centre Cantonal en Autisme de Genève and Consultation pour le développement de l’enfant et de l’adolescent). Meanwhile, she continues an activity as a trainer and teacher in ASD related topics (e.g., she is a certified trainer for the Autism Diagnostic Observation Schedule, ADOS), and she is pursuing a specialization as family systems therapist.
Leben mit Autismus bedeutet vor allen Dingen auch, Autismus aus einer lebensweltlichen Perspektive zu erfahren. Dabei treten Aspekte in den Vordergrund, die ansonsten eher selten in Zusammenhang mit Autismus erörtert werden: Die Erfahrung von Stigmatisierung und Exklusion, Erfahrungen mit unpassenden sozialen Kontexten und Kommunikationsumgebungen, Erfahrungen mit den Besonderheiten autistischen Denkens und Wahrnehmens und nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit dem eigenen Denkstil. Grundlage des Vortrags bilden neben den Erfahrungen des Vortragenden auch seine Erfahrungen mit weit über 1000 autistischen Menschen und die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Erfahrungen.
Kurzvita Hajo Seng:
geboren am 31.1.1963 in Singen a. Htw. lebt seit 1986 in einer Partnerschaft, seit 2011 verheiratet weiß seit 1994, dass er autistisch ist.
Ausbildung
Arbeitstätigkeit
Engagement im Autismusfeld
Mit mehr als zehn wissenschaftlichen Artikeln pro Tag ist Autismus (als Synonym für Autismus-Spektrum-Störung) die wohl am meisten untersuchte Erkrankung der Welt. All diese Forschung ist notwendig, um unser Verständnis für eine Erkrankung zu verbessern, deren Wahrnehmung wie keine andere unter Mythen und falschen Vorstellungen leidet. Doch all die Forschung und all die Informationen darüber, wie anders, besonders und einzigartig Autismus ist, haben uns vergessen lassen, dass Menschen mit Autismus nicht vollkommen anders sind; schließlich haben sie mit anderen Menschen mehr gemeinsam, als wir denken, besonders wenn es um grundlegende Bedürfnisse wie Glücklichsein geht. Auch wenn es gut ist, Neurodiversität anzuerkennen, unterstreicht man damit vor allem die Unterschiede zwischen den Menschen. Zwar ist die Anerkennung der Neurodiversität ein wichtiger Schritt in Richtung Akzeptanz für Autismus und/oder geistige Behinderung als eine von vielen Arten, wie das Gehirn funktionieren kann. Dennoch ist es erst der erste Schritt in Richtung einer besseren Welt und eines verbesserten Wohlbefindens für Menschen mit Autismus oder geistiger Behinderung. Wir sollten auch dem Aufmerksamkeit schenken, was Menschen mit Autismus mit dem Rest der Menschheit verbindet: das Streben nach Glücklichsein.
Glücklichsein hat auf dem Gebiet der Autismus-Spektrum-Störungen bisher wenig Beachtung gefunden. In Outcome- und Effektstudien etwa wird selten das emotionale Wohlbefinden als gewünschtes Ergebnis angenommen. Und wenn das Wohlbefinden doch einmal Thema ist, dann liegt die Betonung auf dem Mangel an Wohlbefinden und Lebensqualität bei Autismus. Es ist an der Zeit, unseren Ansatz auf den Kopf zu stellen. Statt uns nur auf das zu konzentrieren, was bei Autismus anders ist, und statt Glücklichsein bei diesen Menschen im klinischen und medizinischen Zusammenhang zu betrachten (also als Abwesenheit von Leid), sollten wir eine gemeinsame, positive Sichtweise einnehmen (jeder Mensch will glücklich sein). Mit anderen Worten: Ersetzen wir Neurodiversität durch Neuroharmonie.
Master in Psychology and Pedagogical Sciences at the University of Leuven, Belgium (1985) and PhD in Psychology and Pedagogical Sciences at the University of Leiden, The Netherlands (2002).
From 1987 till 1998 working for the Flemish Autism Association, first as home trainer for families with a child with autism, later as director of the home training centre and finally as trainer / lecturer.
Since 1998 working as senior autism consultant / lecturer /trainer at Autisme Centraal.
Founder and director of ‘Autism in Context’.
Chief Editor of "Sterk! In autisme" (Strong in autism), bi-monthly magazine of Autisme Centraal.
Wrote over 150 articles on autism and is author of more than 15 books with translations into more than 10 languages, a.o. "This is the title: on autistic thinking” (2001), “I am Special: handbook for psycho-education” (2000, revised edition 2013), and “Autism as context blindness” (2012), a book than won several awards in the USA.
Received in 2019 the Passwerk Life Time Achievement Award for his more than 30 years contribution to the autism community in Flanders.